Jury Text „Terra fluida“
In der Landschaftsarchitektur haben es drei Arbeiten von sehr hoher Qualität und kontrastierenden Haltungen in die engere Wahl geschafft, aus denen sich nach intensiven Diskussionen eine knapp durchsetzen konnte. Die Arbeit mit dem Titel „Terra fluida“ zeigt eine im Jahr 2035+ angesiedelte Vision, die, bei genauem erkunden der großen Vielfalt an dargebotenen Diagrammen, Analysen und Collagen, auch konkrete Qualitäten überzeugend entwickeln kann.
Sie nimmt die städtischen Umschlagsplätze des Westhafens und Großmarktes in ihrer Beteiligung an den urbanen Stoffströmen großmaßstäblich und tiefenzeitlich in den Blick. Besonders die Verbindung Berlins zum überregionalen Wassersystem und auch die Geologie des Ortes werden neben den aktuell bestimmenden Themen wie Nahrungsmitteln und Baustoffen herausgearbeitet. Aus der Überlagerung von materiellen, infrastrukturellen, ökologischen, geologischen und Beteiligungsfragen der Stadtgesellschaft wird ein Konzept entwickelt, dass entlang dreier sequenzieller, von West nach Ost verlaufender Linien programmatische Schwerpunkte ausbildet: Die Maker-Meile, die Palimpsest.Linie und das raue Wald.Ufer.
Dabei werden insbesondere das Areal des Großmarktes – bis auf die beiden denkmalgeschützten Hallen- und der Recyclinghof neu konzeptioniert. Den südlichen Rücken des Areals bildet die parallel zur Ringbahntrasse verlaufende Maker-Meile, die vom Charlottenburger Verbindungskanal bis ans Ostende des Westhafens reicht. Dichte Bahnwäldchen wechseln sich rhythmisch mit Punkthochhäusern ab, die viel Raum für die Ansiedlung Kreativer anbieten sollen, aber auch Wohnen ermöglichen. Am Südufer des Westhafenkanals verläuft die Palimpsest.Linie, die das geologische Erbe des Ortes aktiv behandelt und in produktiven Interventionen erfahrbar macht. Alte Sedimentablagerungen aus Torfsanden werden zum Anlass, die gegenwärtige Uferlinie aufzubrechen und zwei großzügige Buchten zu formulieren. Eine „produktive Bucht“, benachbart zum Charlottenburger Verbindungskanal, die mit Wasserfarmen aufwartet und eine „Agora- Bucht“ am Übergang zur Beussel- Brücke, die in Anspielung auf ihr antikes Vorbild in einer auf das Wasser auskragenden Architektur mit Marktplätzen, Experimentierflächen oder Bucht-Laboren als offener Verhandlungs- und Ideenraum auftritt.
Auf der anderen Seite der Beusselbrücke wurde das Recyclingzentrum am Übergang zum Westhafen in einen Sediment.Hub transformiert, welcher neben Baustoffen auch Fragen des Stoff-Recyclings von Phosphor oder Nitrat bearbeitet und erlebbar macht. Das Westhafengelände bleibt als industriell-funktionaler Ort weitgehend unangetastet, hier werden nur kleinere Interventionen vorgeschlagen. Den nördlichen Abschluss der Sequenzen bildet das raue Wald.Ufer, das sich über das nördliche Kanalufer erstreckt. Hier werden Vegetationsbilder in Ablehnung an Wilde Uferwälder entwickelt und leiten als Reminiszenzen zum Plötzensee und Wedding über. Die Verfasser*innen zeigen an vielen Stellen gelungenes entwurfliches Handwerk, dennoch bleibt die zentrale Frage der Höhensituation um die Beusselstraße ungelöst und wirft an dieser Schnittstelle viele Fragen auf, die die Jury kontrovers diskutiert. Die Arbeit überzeugt die Jury aber nicht zuletzt durch ihren visionären Charakter, der sich deutlich von den anderen Arbeiten abhebt und große Neugierde für die Details und innovativen Angebote weckend über die ein oder andere räumliche Schwäche hinwegtrösten kann.
Die poetischen Perspektiven vermitteln eine Idee von radikal neuer Öffentlichkeit und Beteiligung am städtischen Metabolismus, der gegenwärtig vor allem an seiner Unsichtbarkeit leidet. Es werden unkonventionelle Situationen geschaffen, die ein Gefühl des Ineinanderfließens einer Stadtgesellschaft mit ihren Stoffströmen vermittelt und Lust macht, Teil dieser Verflüssigung zu werden. Nach intensiver und sehr lebendiger Diskussion möchte die Jury der Fachsparte Landschaftsarchitektur deshalb die Arbeit mit dem Titel: „Terra fluida“ für einen Schinkelpreis vorschlagen.
Pascal Zißler