Wohnungsbau gewerkschaftlich, genossenschaftlich, gemeinnützig

– zum Tode von August Ellinger,

Gründer der Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (GEHAG)

von Steffen Adam

Am 18. Juni 1933 nahm sich August Ellinger in seinem Berliner Haus, in der nach Plänen von Bruno Taut errichteten Siedlung Eichkamp, das Leben. Der Gewerkschaftler, führend in der Arbeitervertretung im Baugewerbe und genossenschaftlichen Organisationen im Wohnungsbau starb – angesichts drohender Verhaftung, Verhören, Folterungen durch deutsche Behörden, die unlängst selbst der nationalsozialistischen Diktatur anheimgefallen waren.

Ellinger sah sich bedroht als bekannter Arbeiterführer und Mitglied der SPD. Sein Fokus lag im Bauwesen, in der Schaffung sozial-bezahlbaren Wohnraums für die breite Masse der Bevölkerung einerseits und Schaffung sicherer, nachhaltiger Arbeitsplätze am Bau. Dabei könnte man annehmen, dass August Ellinger im Grunde einer unverfänglichen Betätigung nachging, äußerst nützlich für Volkswirtschaft und Gemeinwohl.

Ein Heer arbeitsloser Bauarbeiter und demobilisierter Soldaten stand einem Wohnungsfehlbestand im Deutschen Reich von rund 700 000 Wohnungen gegenüber. Was könnte, im Sinne des Erfurter Programms der neu firmierten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, den Gewerkschaften und allen progressiven Kräfte der Gesellschaft natürlicher sein, als beide Missstände gegeneinander aufzuwiegen, indem man sie miteinander gemeinnützig und genossenschaftlich verband?

Die Bauhüttenbewegung

Das jedenfalls war die Idee Ellingers:

Mit dem Geld der Gewerkschaften, insbesondere des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes wurden ab 1918 reichsweit in echter Selbsthilfe von Handwerkern, Facharbeitern und kleinen Unternehmern freie Baufirmen gegründet. Diese sollten wenig mehr als die Arbeitslöhne und die durchlaufenden Kosten für Baumaterial und Verwaltung erwirtschaften. August Ellinger versprach sich besondere Leistungsfähigkeit dieser Baufirmen, die sich Bauhütten nannten, weil die Arbeiter hier selbst Herr ihrer Geschicke waren und „Besitzer ihrer Produktionsmittel“. Damit fand Ellinger in Dr. Martin Wagner, Baustadtrat von Schöneberg, einen kongenialen Mitstreiter und Freund. Ellinger und Wagner waren fortan in allen regionalen, nationalen und internationalen Gremien für die neue, soziale Bauwirtschaft federführend tätig.

Für diese soziale Bauwirtschaft, dass erkannten Ellinger und Wagner, war es wichtig, sich von der privaten, gewinnorientierten Baustoffindustrie unabhängig zu machen. Die Bauhüttenbewegung erwarb bis 1922 Wälder, Sägewerke, Ziegeleien, Betonwerke, Kunststeinfabriken, etc. und nicht einen Augenblick zu früh. Denn 1923 begann die Hyperinflation, der auch einige Bauhütten zum Opfer fielen. Dank der Führung von August Ellinger und Martin Wagner überstand die Bauhüttenbewegung die Krise auf zwei gesunden Beinen: den sozialen Baubetrieben und den sozialen Baustofferzeugern.

Die freien Baugesellschaften

Ein drittes Standbein lag geradezu auf der Hand: Die Sozialisierung der Auftraggeberseite und ein Wohnungsbau für die Bevölkerung durch die Organisationen, die für diese Bevölkerung wirken und eintreten. Zu diesem Zweck hatten August Ellinger und Martin Wagner am 13. März 1924 die Deutsche Wohnungsfürsorge-Aktiengesellschaft DEWOG in Berlin gegründet. Deren operatives Geschäft, Auftragsvergabe an soziale Bauhütten, des Eigenbaus und der Verwaltung der entstandenen Immobilien sollte bei gemeinnützigen Baugesellschaften der einzelnen Länder oder großen Städten liegen.

Berlin stand als Reichshauptstadt natürlich in besonderem Fokus und zog Vertreter:Innen progressiver Ideen, Künstler:Innen oder kreative Gruppen aller Couleur an: Die Brüder Taut, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Hugo Häring oder Otto-Rudolf Salvisberg aus der Schweiz, um nur einige zu nennen. Vertreter des Bauhauses (aus Weimar, Dessau und Berlin) fühlten sich ebenfalls von der jüngsten Metropole angezogen, wo alles möglich schien.

Am 14. April 1924 gründeten August Ellinger und Dr. Martin Wagner im Bundeshaus des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes die Gemeinnützige Heimstätten AG, GEHAG. Gründungsaktionäre wurden der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB unter Carl Legien (heute DGB), der Allgemeine freie Angestelltenbund AfA-Bund unter Siegfried Aufhäuser (heute bei Verdi), acht Einzelgewerkschaften, darunter die Baugewerkschaft (heute IG Bau-Agrar-Umwelt), die Baugenossenschaft Ideal, die Genossenschaft Freie Scholle Tegel (initiiert von Gustav Lilienthal), die Arbeiterbaugenossenschaft Paradies-Bohnsdorf, der Beamtenwohnverein Neukölln, die AOK-Neukölln mit Emil Wutzky, die Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung, die Volksfürsorge (Rente) und die Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Sie finanzierte alle drei Standbeine der Bewegung: Baustoffe, Bauen, Beauftragen.

Was August Ellinger und Martin Wagner mit der GEHAG seit ihrer Gründung unternahmen, betraf nicht nur die Region Berlin-Brandenburg. Die Idee und Umsetzung eines gewerkschaftlich sozialen Bauens wurde reichsweit, ja europa- und weltweit diskutiert, kommentiert und übernommen. Der GEHAG-Wohnungsgrundriss ist praktisch das Vorbild des Wohnens der Welt im 20. Jahrhundert geworden. Dies war ein Beweggrund, sechs Siedlungen der Berliner Moderne zum Weltkulturerbe zu erheben. Zwei dieser Welterbe-Siedlungen, die Hufeisensiedlung in Britz und die Wohnstadt Carl-Legien, wurden von der GEHAG Ellingers und Wagners erbaut und betrieben. Eine weitere GEHAG-Siedlung, die Waldsiedlung Zehlendorf „Onkel Toms Hütte“ soll noch in diesem Jahr zum bestehenden Welterbe nachnominiert werden.

Werk und Wirken nicht vergessen

Martin Wagner gelang nach der Machtübernahme der Nazis die Flucht in die Freiheit. August Ellinger hatte dazu keine Gelegenheit. Alle deutschen Gewerkschaften waren am 2. Mai 1933 zerschlagen, Ihre Strukturen zerstört, ihr Vermögen beschlagnahmt worden. Prominente Gewerkschafter wurden verhaftet, so man ihrer habhaft wurde. Die Vorstellung, er müsse seine Tätigkeit vor Nazi-Schergen im KZ rechtfertigen, dürften in August Ellinger den Entschluss zum Freitod befördert haben.

Der Architekten- und Ingenieurverein Berlin-Brandenburg und das August-Bebel-Institut werden mit der Tagung „Zukunft im Wohnungsbau aus Anlass 100 Jahre GEHAG“ am 13.04.2024 an die Gründung der GEHAG erinnern. Mit dabei sollen alle noch existierenden Organisationen sein: Konsumgenossenschaft Berlin und Umgebung, Baugenossenschaft Ideal, Bundesverband der AOK, Baugenossenschaft Freie Scholle Tegel, Arbeiter-Baugenossenschaft Paradies, Wohnungsbauverein Neukölln, Verdi und IG Bau. Die IG Bergbau-Energie-Versorgung, vertreten durch Rolf Erler, wird dazu den großen Versammlungssaal des Gebäudes zur Verfügung stellen, in dem Dr. Martin Wagner und August Ellinger 1924 die GEHAG gründeten.

Autor: Steffen Adam, Architekt und Bauhistoriker, seit über 25 Jahren tätig mit dem Schwerpunkt anspruchsvoller Planungs- und Bauaufgaben zur Umnutzung und Erweiterung von Bestands- und Wohngebäude, Vermittlung von Denkmalen und denkmalwerten Situationen, ehemals Lehrtätigkeit in Geschichte des Bauingenieurwesens, Mitglied des Vorstandes des Architekten- und Ingenieurvereins zu Berlin – Brandenburg, gegenwärtig Thema 100 Jahre GEHAG.

Martin-Wagner 1930
1931 GEHAG-Organigramm